Russen und Arsen

Der Berliner Wind treibt Tüten über den Himmel. Schön ist das, selbst hier im Hochhausghetto am Rande der Stadt, wo man Trainingsanzüge mit Velourslederoptik trägt und frisch geschredderten Raucherteint. Ich gehe meine Oma besuchen.

Als meine Großeltern gerade in den 11. Stock gezogen waren, weil mein Opa nicht mehr die zehn Treppen in der Stadtmitte hochkam und es hier einen Fahrstuhl gab, war ich stundenlang durch die gleichförmig graue Betonlandschaft geirrt. Hin und wieder fragte ich Einheimische. „Ja, klar, bis zum Horizont geradeaus und dann scharf links. Sind Sie Ausländerin?“, bekam ich mehrmals, durchaus nicht unfreundlich, zu hören. Feine Ohren hatten die hier. Inzwischen hört man in Bus und Bahn fast nur noch Russisch.

Oma hat schon den Kopf aus dem 11. Stock gesteckt und winkt vorsichtshalber jeder halbwegs jungen Frau auf der Straße zu. „Setz dich erstmal“, sagt sie oben mit Tränen umflorter Stimme. Ich setze mich auf das Sofa in einem der mit den Jahren immer leerer gewordenen Zimmer.
„Ich muss ins Krankenhaus.“
„Ach herrje“, sage ich.
„Letzte Woche hatte ich solche Schmerzen im Bein, da bin ich zu meiner Hausärztin. Das ist das Alter, hat die gesagt. Sie spinnen wohl, habe ich gesagt und mir einen ordentlichen Spezialisten gesucht. Jetzt werden sie mich an der Vene operieren ...“
„Sie veröden eine Krampfader.“
„Ein Operation, eine richtige Operation. Wer weiß, ob wir uns wiedersehen.“ Sie wischt ein paar Tränchen von der Brille. „Naja, jetzt trinken wir erst mal Kaffee.“
Oma kramt den Wohnungsschlüssel aus der Kitteltasche. Dann nimmt sie den Wasserkocher und geht ins Treppenhaus.

Jetzt, denke ich. Es ist soweit. Alzheimer, Demenz, Alterswahnsinnn. Schon am Telefon hatte ich mir Sorgen gemacht. „Kind“, hatte sie da gesagt. „Gerade habe ich an dich gedacht. Das ist ja mal wieder Telefonat!“ Das sagt sie seit 20 Jahren, nur hat sie bisher Telefonat und Telepathie auseinanderhalten können.
„Oma“, rufe ich ihr deshalb besorgt hinterher. „Was machst du denn im Hausflur?“
„Hi hi“, sagt sie. „Kaffeewasser kochen. Das geht aufs Haus. Setz du dich schon mal an den Küchentisch.“

Der Küchentisch ist, obwohl heute keine Geschäfte geöffnet sind, festlich gedeckt. Auf feinem Goldrandgeschirr liegt seit zehn Monaten abgelaufene Schokolade mit Schlagsahne. Meine Oma war schon immer erfinderisch. Geboren in einem Zipfel von Österreich, der 1919 tschechisch und unter Hitler tief schwarzbraun wurde. Der Vater arm wie eine Kirchenmaus und Mitglied der tschechischen kommunistischen Partei. Ihr Onkel mit 17 in den Spanienkrieg gezogen und danach 5 Jahre in Buchenwald. Auf den kommt die Sprache jedes Mal.

„Mein lieber Onkel Karl“, sagt sie und muss weinen. „So schöne Zähne hatte der, und so schön hat er Geige gespielt. Ein Vierteljahr nach dem Krieg kam er heim und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Da kamen die sowjetischen Offiziere, die das Städtchen besetzt hielten, und brachten ihm zu essen. Am liebsten hätten sie ihn ganz rund gefüttert. Und abends“ – an dieser Stelle lacht die Oma wieder – „abends haben wir gespielt. Der Onkel Karl Geige, ich Akkordeon. Das liebten die Offiziere.“

„Die Russen“, erzählt sie weiter, „haben nämlich eine besondere Saite in ihrer Seele für die Musik. Nach dem Krieg, als das ganze Umland schon von den Amerikanern oder den Sowjets besetzt war, nur unser Städtchen noch nicht, höre ich in der Mittagspause Musik. Aber keine tschechische oder deutsche. ‚Frau Kraus‘, sage ich zu meiner Chefin, der Ladenbesitzerin, das muss ich mir angucken‘. Ich also rauf aufs Fahrrad und der Musik entgegen. Und da sah ich sie. Vorn die Kapelle, danach die abgerissenen Gestalten mit den brüllenden Kühen. Hinten ein hübscher blonder Bengel.
‚Mädchen‘, ruft der zu mir herüber. ‚Schick uns doch mal ein paar Leute zum Melken. Das Vieh schreit.‘
‚Mach ich‘, sage ich. ‚Aber woher kannst du denn so gut Deutsch?‘
‚Ich bin Deutscher, aus Breslau. Meine Eltern sind tot, da haben mich die Russen mitgenommen.‘
Ich also wieder zu Frau Kraus geradelt, die hat Leute zum Melken organisiert. Ganze Eimer mit schäumender Milch haben die weggetragen. Aber die russischen Kriegsgefangenen, wie die von Weitem die Musik gehört haben, die Armen, die sind fast nicht wiederzuerkennen gewesen. An den Stacheldrahtverhauen haben sie gerissen und geweint, geweint.“

Die Oma rührt in ihrem Kaffee. Dünn ist sie in den letzten Jahren geworden. Die Schokolade wird und wird nicht weniger. Nach der Umsiedlung aus dem Sudetenland hat sie geheiratet, hat nicht mehr gearbeitet, weiter als bis Usedom ist sie nicht gereist. Die einzigen leuchtenden Erinnerungen in ihrem Kopf ist ihre Jugend, im Krieg.

Draußen segelt eine Alditüte am Fenster vorbei. Unten knutschen russische Jugendliche mit deutschen Mädchen auf Elefantensohlen. Meine Oma findet das gut: „Heute gibt es ja die Pille. Früher haben die Frauen Arsen geschluckt, und ihre Schreie hallten durch die ganze Siedlung ...“

Manchmal setzt sie sich zu anderen Großmüttern auf die Bank an der Straße und kramt tschechische und russische Gesprächsbrocken aus ihrem Gedächtnis. Erfährt, dass der Schwiegersohn wieder nach Kasachstan ist. Die Enkeltochter mit den zwei Kindern keine Arbeit hat. Aber der Nachbar von unten links gestern beim Fensterputzen geholfen hat. Wenn die Sprachkenntnisse erschöpft sind, nickt man sich freundlich zu. Alles fast wie früher.
Die Sushi - 18:45

Eine schöne, wenn auch leicht traurige Geschichte. Ich lese sowas immer gerne...

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