Geschichten aus dem glanzlosen Alltag
Sonntag, 30. Juli 2006
„Nein, Herr, die Früchte sind noch nicht reif, dafür zieht keiner in einen Mallorquinischen Krieg“, sagt der Berater. Mein Mann hält mir einen Teller mit zwei Zentimeter großen Pflaumen hin. Sie schmecken wässrig.
„Für etwas wirklich Süßes sind sie zu groß,“ sagt er. Die Männer lachen ein dreckiges Feldzuglachen.
„Geht in den Saal, Herrin,“ sagt der Berater. „Wir kommen gleich.“
Im Saal sind alle vorderen Plätze an der Tafel schon belegt. Mich allein auf die Prunkstühle an der Stirnseite zu setzen, habe ich keine Lust. Ich setze mich auf einen Stuhl ans Ende. Die Schwangere zu meiner Rechten unterhält sich angeregt über Kinder. Keiner beachtet mich. Eine Freundin von ihr kommt zum Verabschieden. Es ist ihnen unangenehm, dass ich zuhöre. Die Freundin wechselt sogar ins Rückwärts, wohl ihre Kindergeheimsprache. Ich räuspere mich deutlich. Ein bisschen Respekt, meine Damen! „Und wenn du mal wieder in Theitz bist, dann schau nach unten, vielleicht laufe ich durch die Straßen“, sagt die Gehende.
Theitz. Der Gang, von dem aus man in die Neuzeit schauen kann. Lange nicht mehr dort gewesen. Ich laufe der Gehenden unauffällig hinterher. Gucke in faltenfrei restaurierte Einkaufsgassen, für die Touristen begradigt und gelackt. Nur ein Stück Gemäuer ist noch krumm und stumpf. „Schleuse, 13. Jh.“ steht auf einem Schild. Oh Mist, ich bin schon in der Neuwelt. Wie komme ich zurück? Wie komme ich bloß schnell zurück?
Ich taste das über die mittelalterlichen Mauern geschraubte Glas ab. Doppeltes Sicherheitsglas, keine Lücke. In die Schleuse zu springen, traue ich mich nicht. Sie funktioniert wie eine Klospülung, wer weiß, wie lange man unter Wasser ist. Stimmen nähern sich. Panik. Ich wache auf.
Die derzeitige Lektüre über das 14. Jahrhundert, Freund G., der mich neuerdings leicht tadelnd Prinzesschen nennt, der gestrige Besuch im Goetheschen Studentenclub – da ist klar, woher der Wind weht. Aber wie hinterhältig der Sandmann alles mit dem Motiv der Ausgeschlossenheit unterlegt, ist doch bemerkenswert.
Montag, 29. Mai 2006
Seit den drei Wochen mit dem Chemiker habe ich ein gestörtes Verhältnis zu Männern. Sie brauchen nur in meine Richtung zu schauen, und schon sehe ich die Probleme hinter ihren Augen lauern, wie sie sich zu Sprung krümmen, sich auf mich stürzen und mich zu Boden reißen wollen.
Am regnerischen Männertag zum Beispiel gabeln wir Kollegen L. auf. Der Kollege L. ist ein waschechter Brandenburger und äußerst sparsam im Wortverbrauch. Er kauft den Kollegen A. und F. und sich ein Bier, und mir und sich einen Kümmerling. Während wir höflich daran herumnippeln („Wir sind im Dienst, Andreas, versteh das“), geht Kollege L. schnurstracks zum dritten Bier und Kümmerling über und sagt zu mir:
„Gib mir mal deine Hand, meine Kleine.“
Ich, schlagfertig, eloquent und charmant wie ich eben so bin: „Nö.“
Der Kollege L. erzählt mit getragener Stimme ein Anekdötchen und sagt dann: „Ich wette, du kannst nicht Handlesen. Gib mir mal deine linke.“
Ein hartnäckiger Kollege, und gar nicht mal dumm, denn mit Neugierigmachen kriegt man mich immer. Und schon sitze ich in der Falle.
Er reibt an meiner Hand herum und seufzt.
Die Kollegen und ich: „Na, wat denn nu?“
Er reibt und seufzt.
„Du hast so zerrissene Linien.“
„Ja, und?“
Er reibt und seufzt.
Dann schaut er mich mit schwimmenden Augen an. Blassblaue Augen in einem vierzigjährigen, kantigen, leicht geröteten Gesicht.
„Deine Hand ist wie dein Charakter.“
„Wie ist denn mein Charakter?“
„Das wird sich glätten, wenn du älter bist.“
Er reibt meine Hand weiter und schaut mich an und schaut und schaut, der bleierne Brandenburger Himmel reißt auf, und ich sehe: Den Preußen mit den festen Überzeugungen und seiner peniblen Arbeitsweise. Den sturen Harley-Fahrer mit den schmalen Händen, der sich an seinen Markenjacken und Machosprüchen durch die Einsamkeit hangelt. Der sich am Männertag Arm in Arm mit Freund Alkohol durch die Massen der Provinzler schiebt. Das Kinn vorgeschoben wie eine Festung sucht er Anschluss, ohne seinen Schutzschild senken zu wollen. Sind wir nicht alle so, wir alleinen Menschen? Suchen die andere Hälfte, aber wollen in unserer Kugel aus geronnenen Ritualen und Eigenarten kein Eckchen freiräumen?
Am nächsten Tag, in der Kantine, hält sich Kollege L. hinter einer wahrhaft riesigen Sonnenbrille verborgen. Der Brandenburger Himmel ist wieder dicht verhangen.
Montag, 22. Mai 2006
Der Berliner Wind treibt Tüten über den Himmel. Schön ist das, selbst hier im Hochhausghetto am Rande der Stadt, wo man Trainingsanzüge mit Velourslederoptik trägt und frisch geschredderten Raucherteint. Ich gehe meine Oma besuchen.
Als meine Großeltern gerade in den 11. Stock gezogen waren, weil mein Opa nicht mehr die zehn Treppen in der Stadtmitte hochkam und es hier einen Fahrstuhl gab, war ich stundenlang durch die gleichförmig graue Betonlandschaft geirrt. Hin und wieder fragte ich Einheimische. „Ja, klar, bis zum Horizont geradeaus und dann scharf links. Sind Sie Ausländerin?“, bekam ich mehrmals, durchaus nicht unfreundlich, zu hören. Feine Ohren hatten die hier. Inzwischen hört man in Bus und Bahn fast nur noch Russisch.
Oma hat schon den Kopf aus dem 11. Stock gesteckt und winkt vorsichtshalber jeder halbwegs jungen Frau auf der Straße zu. „Setz dich erstmal“, sagt sie oben mit Tränen umflorter Stimme. Ich setze mich auf das Sofa in einem der mit den Jahren immer leerer gewordenen Zimmer.
„Ich muss ins Krankenhaus.“
„Ach herrje“, sage ich.
„Letzte Woche hatte ich solche Schmerzen im Bein, da bin ich zu meiner Hausärztin. Das ist das Alter, hat die gesagt. Sie spinnen wohl, habe ich gesagt und mir einen ordentlichen Spezialisten gesucht. Jetzt werden sie mich an der Vene operieren ...“
„Sie veröden eine Krampfader.“
„Ein Operation, eine richtige Operation. Wer weiß, ob wir uns wiedersehen.“ Sie wischt ein paar Tränchen von der Brille. „Naja, jetzt trinken wir erst mal Kaffee.“
Oma kramt den Wohnungsschlüssel aus der Kitteltasche. Dann nimmt sie den Wasserkocher und geht ins Treppenhaus.
Jetzt, denke ich. Es ist soweit. Alzheimer, Demenz, Alterswahnsinnn. Schon am Telefon hatte ich mir Sorgen gemacht. „Kind“, hatte sie da gesagt. „Gerade habe ich an dich gedacht. Das ist ja mal wieder Telefonat!“ Das sagt sie seit 20 Jahren, nur hat sie bisher Telefonat und Telepathie auseinanderhalten können.
„Oma“, rufe ich ihr deshalb besorgt hinterher. „Was machst du denn im Hausflur?“
„Hi hi“, sagt sie. „Kaffeewasser kochen. Das geht aufs Haus. Setz du dich schon mal an den Küchentisch.“
Der Küchentisch ist, obwohl heute keine Geschäfte geöffnet sind, festlich gedeckt. Auf feinem Goldrandgeschirr liegt seit zehn Monaten abgelaufene Schokolade mit Schlagsahne. Meine Oma war schon immer erfinderisch. Geboren in einem Zipfel von Österreich, der 1919 tschechisch und unter Hitler tief schwarzbraun wurde. Der Vater arm wie eine Kirchenmaus und Mitglied der tschechischen kommunistischen Partei. Ihr Onkel mit 17 in den Spanienkrieg gezogen und danach 5 Jahre in Buchenwald. Auf den kommt die Sprache jedes Mal.
„Mein lieber Onkel Karl“, sagt sie und muss weinen. „So schöne Zähne hatte der, und so schön hat er Geige gespielt. Ein Vierteljahr nach dem Krieg kam er heim und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Da kamen die sowjetischen Offiziere, die das Städtchen besetzt hielten, und brachten ihm zu essen. Am liebsten hätten sie ihn ganz rund gefüttert. Und abends“ – an dieser Stelle lacht die Oma wieder – „abends haben wir gespielt. Der Onkel Karl Geige, ich Akkordeon. Das liebten die Offiziere.“
„Die Russen“, erzählt sie weiter, „haben nämlich eine besondere Saite in ihrer Seele für die Musik. Nach dem Krieg, als das ganze Umland schon von den Amerikanern oder den Sowjets besetzt war, nur unser Städtchen noch nicht, höre ich in der Mittagspause Musik. Aber keine tschechische oder deutsche. ‚Frau Kraus‘, sage ich zu meiner Chefin, der Ladenbesitzerin, das muss ich mir angucken‘. Ich also rauf aufs Fahrrad und der Musik entgegen. Und da sah ich sie. Vorn die Kapelle, danach die abgerissenen Gestalten mit den brüllenden Kühen. Hinten ein hübscher blonder Bengel.
‚Mädchen‘, ruft der zu mir herüber. ‚Schick uns doch mal ein paar Leute zum Melken. Das Vieh schreit.‘
‚Mach ich‘, sage ich. ‚Aber woher kannst du denn so gut Deutsch?‘
‚Ich bin Deutscher, aus Breslau. Meine Eltern sind tot, da haben mich die Russen mitgenommen.‘
Ich also wieder zu Frau Kraus geradelt, die hat Leute zum Melken organisiert. Ganze Eimer mit schäumender Milch haben die weggetragen. Aber die russischen Kriegsgefangenen, wie die von Weitem die Musik gehört haben, die Armen, die sind fast nicht wiederzuerkennen gewesen. An den Stacheldrahtverhauen haben sie gerissen und geweint, geweint.“
Die Oma rührt in ihrem Kaffee. Dünn ist sie in den letzten Jahren geworden. Die Schokolade wird und wird nicht weniger. Nach der Umsiedlung aus dem Sudetenland hat sie geheiratet, hat nicht mehr gearbeitet, weiter als bis Usedom ist sie nicht gereist. Die einzigen leuchtenden Erinnerungen in ihrem Kopf ist ihre Jugend, im Krieg.
Draußen segelt eine Alditüte am Fenster vorbei. Unten knutschen russische Jugendliche mit deutschen Mädchen auf Elefantensohlen. Meine Oma findet das gut: „Heute gibt es ja die Pille. Früher haben die Frauen Arsen geschluckt, und ihre Schreie hallten durch die ganze Siedlung ...“
Manchmal setzt sie sich zu anderen Großmüttern auf die Bank an der Straße und kramt tschechische und russische Gesprächsbrocken aus ihrem Gedächtnis. Erfährt, dass der Schwiegersohn wieder nach Kasachstan ist. Die Enkeltochter mit den zwei Kindern keine Arbeit hat. Aber der Nachbar von unten links gestern beim Fensterputzen geholfen hat. Wenn die Sprachkenntnisse erschöpft sind, nickt man sich freundlich zu. Alles fast wie früher.
Sonntag, 7. Mai 2006
Sonntags im Park. Vier alte Männer sitzen mit einer Schnapsflasche auf einer Bank. Sie lachen lauthals, klopfen sich auf die Schenkel, ganz rot vom Kichern. Als ich vorbeilaufe, winkt mir einer mit seiner knorrigen Hand zu: „Na, Kleene, komm doch mal her.“
Von alten Männern muss man sich fernhalten. Auch wenn sie noch so harmlos aus ihren Falten schauen. Das haben wir gelernt, Marie und ich, als wir mit süßen 18 Jahren in den Süden von Europa trampten, unsere furchtsamen Mütter mit großen Schachteln von Beruhigungsmitteln zurücklassend. Wir fuhren mit einsamen Familienvätern, kommunistischen Pfarrern, geilen Truckfahrern und piefigen Hippies längs durch Europa. Doch das Unerwartete geschah ganz unten, im Süden. Marie und ich machten gerade Pause von einander, ich am Strand, Marie in den Galerien des malerischen Küstenstädtchens.
Marie spaziert also durch die Gegend, da sieht sie einen Opa vor einer Fischerkate sitzen. Sonnengegerbte Falten, Schiebermütze, Netze flickend. Der Opa lächelt Marie zahnlos an. Marie lächelt begeistert zurück. Sonnenuntergang. Geigen. Die leibhaftige Postkartenidylle. Der Opa brummelt etwas in seine Bartstoppeln und deutet auf das Fischernetz. Die Ethnografin in Marie erwacht, und sie beugt sich interessiert über die einheimischen Geheimnisse der Fischernetzknüpfkunst. Wohlwollend lächelt der Opa, lässt das Netz fahren und drückt – määp määp – Maries Brüste mit beiden Händen!
So sind alte Männer nämlich. Deshalb können sich Großväter aller Couleur noch so hilflos auf den Zebrastreifen werfen und wild mit dem Krückstock rudern – da reagier‘ ich gar nicht drauf. Normalerweise. Heute aber schaue ich auf den dreiköpfigen Löwenzahn in meiner Hand (siehe unten), auf die Buschwindröschen im Busch, und plötzlich hebt sich, simultan zu meinen Mundwinkeln, mein rechter Arm und winkt dem rotköpfigen Opa auf der Parkbank ganz leicht und frühlingshaft zurück.
Gefunden am Klärwerk
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Mittwoch, 22. März 2006
Nach der innerlichen Verkühltheit der letzten Monate ein deutlicher Aufwärtstrend. Beleg: Dieser Traum.
Marie und ich sitzen bei der Aufnahmeprüfung der Kriminalpolizei. „Und jetzt, liebe Anwärterinnen“, sagt der dicke weißhaarige Kriminaler, „prüfen wir Ihre Fähigkeiten im Verhör. Dafür müssen Sie Folgendes beachten ...“
„Ach, wissen Sie“, sage ich zu ihm, „lassen Sie mal. Ich glaube, ich bleibe bei meinem Beruf.“
Dienstag, 20. Dezember 2005
Übellaunige Fräuleins streunen durch meine Wohnung. Der dem Mitbewohner geklaute Wein ist sauer, das Essen verbrannt. Der Weihnachtskalender leer, die Bücher Schund. Warum, sag mir, warum?
Darum, meine Liebe: Der Fernseher ist krank. Ihm fehlt
DVB-T.
Es ist wie in der Schule. Eigentlich hat man keine Lust mit den Langweilern in der Klasse zu spielen. Aber wenn sie einen mutwillig ausschließen, fühlt man sich wie ein aus der Jacke gefallenes Papiertaschentuch.
Ich will zu meiner Anne und meiner Gundula!
Montag, 19. Dezember 2005
Trotz fortgeschrittenen Alters schenkt mir meine Mutter jedes Jahr einen Weihnachtskalender. Sonst maule ich. Diesmal ist es einer mit einem flotten Spruch unter jedem Schokoladenstück. Hier eine Auswahl:
„Da hat der Weihnachtsmann aber Glück
Tim bringt das verloren gegangene Geschenk zurück.“
„Freudig hilft hier Papa Maus
dem Mausekind aus der Tasche raus.“
Seit Anfang Dezember reift,
riff und reifte in mir deshalb ein neuer Berufswunsch: Kalender-Dichter. Im Frühjahr würde ich mir Bauernregeln ausdenken, im Sommer meinen Arztroman vervollkommnen und mich dann im Herbst gemütlich mit Punsch und Pilzen auf Sofas setzen und mein Bestes in der Dichtkunst geben. Etwa das:
„Der Nikolaus haut Klausi auf den Po
das prickelt unter seiner Kutte so.“
Zwei Tage lang würde ich meinen Punsch-und-Pilze-Rausch ausschlafen, bis mich der aufgeregte Abteilungsleiter vom Sofa klingelt: „Fräulein R.! So nicht! Sie wissen doch ganz genau, dass wir für KINDER schreiben! Der erste Satz MUSS kürzer sein als der zweite!“
„Sch-sch-sch-näuzelchen,“ würde ich sagen. „Ich wollte mal etwas Neues versuchen.“
„Wir sind ein würdiges Traditionshaus“, sabbert der Abteilungsleiter in seinen Schnauzer. „Aber ich gebe Ihnen noch eine Chance. Kommen Sie heute Abend bei mir vorbei, dann suchen wir gemeinsam nach dem Reim.“
Ich spränge fröhlich vom Sofa, zwängte meinen Weihnachtskalenderschokoladen-Hintern in einen vergangenen Minirock und triebe die Karriere voran. (Das täte ich auch gern im wahren Leben, ja, ich würde mich gnadenlos hochschlafen, Augen zu und drunter, aber leider hat mich noch kein Chef gefragt.)
Später bekäme ich die dichterische Verantwortung für einen Großauftrag aus Übersee, unsere Adventskalender würden die Christmas-Kultur revolutionieren, auf jeder Tüte stünden kleine seelenvolle Poesien, und vor lauter Dankbarkeit sängen alle Mitarbeiter des Traditionshauses am Heiligabend die Firmenhymne extra für mich, während der Abteilunsgleiter in einer finsteren Ecke eifersüchtig an seinem Schnauzer kaut.
Ein Leben, sage ich Euch, ein Leben wäre das!
Gestern zu früh am Bahnhof gewesen und im Zeitungsladen sämtliche Frauenzeitschriften gelesen. Dort unter anderem erfahren, dass Männer von Aggressionen und feindlichen Artgenossen träumen, Frauen dagegen von Haus und Hof und dem Zwischenmenschlichen.
Ich meinerseits träumte heute, dass unser Floß so schwer ist, dass wir nur noch mit den Köpfen aus dem Wasser gucken. Und – wie kann es anders sein – kommt natürlich ein Hai. Silbern wie eine Ölsardine baut er sich vor mir auf. Ich versuche ihn mit meinem Kochlöffel zurückzuhalten (eindeutig zu viele Plätzchen gebacken in letzter Zeit). Aug in Aug schwimmen wir.
Plötzlich schnappt er zu und beisst ohne Zögern meinen Fuß ab. Ganz glatt, seine Zähne hinterlassen Furchen im Fleisch wie ein Messer in harter Butter. „Scheiße“, denke ich, schwimme an Land und binde mit einem Schal den Blutstrom ab. Glücklicherweise tut im Traum ja nichts weh, genauso wie man nicht friert und sich nur vor dem Ungewissen, dem Lauern des Unglücks windet.
Schmerzlos also krieche ich über einen Hügel – und sehe vor mir New York. Schönes New York im Abendlicht. New York in einem Moment der Stille und Heiterkeit. Doch was türmt sich da am Horizont in der Bucht auf? Sehr einfallsreich: Der Tsunami. Ein Donnern tönt bis zu meinem Hügel hinauf, als die Welle die Wolkenkratzer zermalmt und mir die Ziegelsteine um die Ohren fliegen.
Als ich die Augen wieder aufmache, ist dort, wo New York war, Steppe. Ich bin bis über den Kopf eingeschneit (ohne zu frieren, wohlgemerkt) und höre aus dem scheppernden Lautsprecher eines LKW, der unten vorbeirumpelt: „Wer einen französischen oder amerikanischen Journalistenausweis vorweisen kann, bekommt drei Dollar!“
Ja, was denn nun? Ist das männlich, weiblich? Die Generalverarbeitung aller Katastrophenfilme, die ich in den letzten Jahren gesehen habe? (Hier wohl „The Beach“, „Deep Impact“ und, als versöhnlicher Abschluss,
„In der Höhle des gelben Hundes“.)
Gibt’s denn nichts Neues im Leben, im realen Leben, über das sich mein doofes Gehirn Gedanken machen sollte?
Freitag, 9. Dezember 2005
Oh Gott! sag ich. Schon um um zehn, ich muss ins Bett.
Oh Gott! sag ich. Jugend, wo bist du hin?